Um die Schwierigkeiten der Nesselfasergewinnung besser einordnen zu können, empfiehlt sich ein kurzer Ausflug in den Stängelaufbau einiger Bastfaserpflanzen: Dort findet man besonders große Unterschiede zwischen Nessel und Flachs oder Hanf in der Anordnung der Fasern in der Rinde.
Bei Flachs und Hanf liegen die ältesten (und damit die am stärksten verholzten) Faserzellen im unteren Bereich der Pflanze, die jüngsten Faserzellen liegen ganz oben, nahe der Pflanzenspitze.
Bei der Nessel hingegen liegen die ältesten Fasern ganz außen, die jüngeren Fasern weiter innen im Bastteil.
Bei Flachs und Hanf liegen die Fasern in durchgehenden Faserbündeln über die gesamte Stängellänge vor, die von einer Vielzahl mehr (Stängelmitte) oder weniger (Wurzelnähe) langer, dicht gepackter Einzelfasern gebildet werden.
Dieser Organisationsgrad ist bei der Nessel deutlich geringer, hier spricht man anstelle von Faserbündeln eher von Fasergruppen, die sich als Mischung von längeren und kürzeren, dickeren und dünneren Einzelfasern lediglich über Teile des Stängels erstrecken.
Die Länge dieser Fasergruppen liegt in einem Bereich von etwa 150 bis 300 mm, ist also viel kürzer als die der Faserbündel von Flachs mit etwa 600 bis 800 mm oder gar denen von Hanf, die bis 2 m lang werden können.
Der Nesselfaserproduzent hat es also mit einem wesentlich heterogeneren Ausgangsmaterial als der Hanf- oder Flachsverarbeiter zu tun.
Zudem ist die spezifische Oberfläche der Fasergruppen in der Nessel viel größer als die der Faserbündel in Flachs und Hanf.
Der Verbund zwischen den Einzelfasern weist daher eine weit geringere Widerstandskraft gegenüber den Einwirkungen einer Tau- oder Wasserröste auf. Dies ist auch ein Grund, warum die Röstreife der Fasernessel nochmals viel schwieriger als beim Flachs zu bestimmen ist.
Zur ersten Trennung von Holz und Faserteil benutzt man mechanische Systeme, die den inneren Holzteil der zunächst auf etwa 20 – 40 cm eingekürzten Nesselstängel in kleine Stücke brechen (Nesselscheben) und über mechanische Siebe, Schüttler oder Windsichten den Holz- vom Faseranteil trennen. Dies geschieht möglichst, ohne den Faseranteil einzukürzen, denn was zu kurz ist, geht zusammen mit den Scheben für die Fasernutzung verloren. In weiteren Schritten wird die Nesselfaser von anhaftenden Holz- und Rindenteilen sowie Staub befreit.
Neben den dazu genutzten, teilweise erheblich modifizierten, mechanischen Komponenten aus der Baumwoll- oder Bastfaserproduktion bzw. ganz auf die Verarbeitung von Nesseln abgestellten Unikaten werden heute unterschiedlichste Ansätze zur möglichst faserschonenden Reinigung und Verfeinerung verfolgt: Dies sind neben mechanischen auch nasschemische Aufschlussprozesse, Ultraschall- oder Dampfdruckaufschluss sowie deren Kombinationen.
Bei allen mechanischen Reinigungs- und Verfeinerungsschritten ist zu berücksichtigen, dass die Reißdehnung der Nesselfaser mit 1,2 % viel geringer als die von Flachs mit 2 – 3 % oder gar Baumwolle mit weit über 5 %. Das macht die Nesselfaser vergleichsweise spröde. Entsprechend wird in der Praxis auch immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Fasergruppen der Nessel nochmals sensibler auf mechanischen Stress bei der Verarbeitung reagieren als die Faserbündel von Flachs oder Hanf.
Am Ende des Aufschlussprozesses der Nessel stehen daher meist Faserflocken, die möglichst frei von holzartigen Verunreinigungen, Staub und für den Spinnprozess unbrauchbaren Kurzfasern kürzer als etwa 10 mm sein sollen. Diese Faserflocken werden in Ballen gepresst und gehen in die Spinnerei.